
Dein Wunsch ist mir Befehl.

Dein Wunsch ist mir Befehl.
Spät am Abend komme ich am Bahnhof an, strapaziert von der langen Fahrt, ein halber Tag im Zug. Jetzt nur noch nach Hause schaffen und dann ins Bett. Ich komme aus dem Bahnhofsgebäude nach draußen, begleitet vom knatterndem Geräusch der Räder meines Rollkoffers über die Steinkacheln. Das Scheppern schreckt die wartenden Taxifahrer auf. Es ist eine lange Schlange der Cabs aufgestaut. Früher wahren immer nur ein-zwei Wagen da und immer schnell vergriffen. Jetzt warten sie lange auf Fahrgäste. Auch hier ist die Wirtschaftskrise angekommen. Sie blicken alle voller Erwartung in meine Richtung. Nimmt sie wohl ein Taxi? Ich zucke kurz, überlege, nein, ich habe nicht genug Bargeld dabei und der Weg ist nicht sehr lang, und es ist Sommer und warm. Kein Grund also, ich laufe, beschließe ich. Ich gehe an den wartenden Fahrern vorbei mit meinem Rollkoffer und merke: Ich enttäusche sie. Und fühle mich augenblicklich schlecht. Ich habe sie in ihrer Not zurückgelassen, ich habe keine Erleichterung schenken können. Ein quälendes Gefühl überkommt mich. Wie kann ich nur?
Kennst du es auch? Du fühlst die Not des Anderen und willst sie sofort wegnehmen, selbst wenn dies gar nicht deine Aufgabe ist?
Noch absurder hörte ich einmal von einer Klientin: „Wenn ich an der Käse-Theke stehe und mich für eine Käsesorte entscheide, fühle ich mich schlecht gegenüber dem anderen Käse daneben. Wahrscheinlich wollte er auch von mir gekauft werden, und ich lasse ihn alleine zurück.“
Natürlich sind das Projektionen. Der Käse fühlt nicht. Es sind unsere Gefühle, die wir hineinprojizieren: Jemand braucht mich. Ich muss mich kümmern. Ich muss denjenigen retten. Ich bin für die anderen da. Die Wünsche anderer lassen mich nicht kalt, wie in meinem Fall mit den Taxifahrern.
Im alltäglichen Leben sind wir permanent mit den Wünschen anderer Menschen konfrontiert. Mein Kind will, mein Chef will, meine Eltern wollen, mein Mann. Es hört nicht auf.
Kaum vernehmen wir den Wunsch des anderen, geraten wir in eine Art Sog hinein, dem wir uns wehrlos ausgeliefert fühlen. Schon rattert es im Kopf, wie wir den an uns gerichteten Wunsch erfüllen könnten, was wir dafür alles in die Wege leiten könnten, welche Möglichkeiten uns dazu zur Verfügung stünden und machen uns unverzüglich an die Arbeit. Der Auftrag steht und wirkt. (Ich habe tatsächlich in mein Portemonnaie hineingeschaut und das Bargeld zusammengezählt. Vielleicht reicht es ja doch?)
Nicht einmal kommt uns in den Sinn, Nein zu sagen oder den Wunsch des anderen zu hinterfragen, ob er überhaupt zu unserer Zuständigkeit gehört? Noch weniger fragen wir uns, ob wir in der Lage sind, diesen Wunsch zu erfüllen, ob wir Zeit, Kraft oder Lust haben, es zu tun? Und ob wir es überhaupt müssen?
Alleine, dass der Wunsch im Raum steht (nicht einmal ausdrücklich an uns gerichtet), reicht völlig dafür aus, dass wir uns in Marionetten verwandeln und wie an den Fäden gezogen uns an die Arbeit machen.
Ist es nicht sonderbar? Hast du dich selbst schon einmal dabei ertappt, sich in dieser fremdbestimmten Realität wie aufzulösen? Wenn ja, dann ist der erste wichtige Schritt zur Veränderung bereits getan – das Durchdringen in das Bewusstsein. Bis dahin geschieht in den meisten Fällen noch folgendes: Wir spüren uns selbst in diesem Moment nicht, wir verschwinden förmlich, verlieren den Boden unter den Füßen, hören auf zu existieren und tun nur eins: dienen, gehorchen, erfüllen.
Ist das so verkehrt? Zunächst fühlt es sich gut an dem anderen zu dienen, besonders unseren Kindern. Das Gehirn schüttelt große Mengen Belohnungshormone aus, denn wir tun dem anderen etwas Gutes, fühlen uns gebraucht, großzügig, selbstlos. Bestimmt liefert uns der Verstand genügend Gründe, warum die Wünsche des anderen sicher berechtigt sind, besonders die der Kinder, die ja noch so klein und hilflos sind. Sicher doch.
Und dann passiert etwas, was die Situation zum Kippen bringt: Es kommen mehr Wünsche und noch mehr und dann kommt ein Wunsch am Ende, den wir nicht erfüllen können. Ein Tropf, der das Fass zum Überlaufen bringt. Etwas reißt im Inneren und die gütige innere Mutter Theresa verwandelt sich in die wütende, monströse Krake Ursula, die zu allen Seiten austeilt – Blicke wie Blitze, Beschimpfungen, Wutkaskaden, Handgreiflichkeiten und purer Zerstörungsdrang.
Was ist passiert?
Im Moment der Überforderung zeigen sich immer unsere Schattenseiten, unsere vergessenen Verletzungen, verdrängter Schmerz und unsere Überlebensstrategie in dieser Welt, nämlich schon immer nur dann sein zu dürfen, wenn wir uns selbst aufgeben, wenn wir uns anpassen und uns aufopfern.
Wahrscheinlich waren wir als Kinder seelisches Futter gewesen, verschlungen und vereinnahmt von unseren Eltern. Wir hatten nie gelernt, mit sich verbunden zu sein. Wir wissen gar nicht, wie das geht, eigene Wünsche zu haben, eigene Grenzen zu wahren, etwas selbst zu entscheiden, für sich Raum einzufordern, eigenes Gesicht zu zeigen, eigene Stimme klingen zu lassen, präsent sein, hier in dieser Welt. Wir mussten stattdessen andere trösten, zwischen Eltern vermitteln, sich um kleinere Geschwister kümmern, andere stolz und zufrieden machen, nicht auffallen, keine Probleme bereiten, mitlaufen, nicht enttäuschen.
Ich gehöre auch dazu. Als ich Mutter wurde, habe ich zehn Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass ich meinem Kind auch mal Nein sagen kann, ohne mich dabei schuldig zu fühlen. Wie lächerlich erscheint mir diese Binsenweisheit heute. Doch damals war ich schockiert, als ich den Titel des Buches „Nein aus Liebe“ von Jasper Juul gesehen habe. „So ein verlogenes Buch werde ich doch niemals lesen!“ – dachte ich. Das Buch habe ich bis heute nicht gelesen, aber ich kann heute sehr wohl freundlich aber bestimmt zu meinem Kind Nein sagen, ohne dass ich mich dabei schlecht fühlen muss. Ein Nein bedeutet noch lange keinen Liebesentzug oder Abweisung. Das ist schlicht das Bewahren eigener Grenzen.
Und nun? Was tue ich, wenn ich mich genau in dieser Situation befinde und zumindest das Bewusstsein darüber erlangen habe?
Soll ich einfach mal öfter Nein sagen? So einfach wie es klingt, es ist es leider nicht. Es kann passieren, dass wir an der falschen Stelle Nein sagen, dass es unkontrolliert oder übertrieben herausbricht. Daran scheitern die klassischen Ratgeber, weil sie uns zu Handlungen auffordern, die wir mechanisch ausführen sollen, entfernt von uns selbst. Es hilft niemanden und führt eher noch zu Eskalation. Wir müssen uns zunächst selbst spüren, dann spüren wir den anderen auch und können zwischen dem fremden und dem eigenen Wunsch angemessen vermitteln. Beide Wünsche sind berechtigt und beide Wünsche dürfen sein. Wir müssen nur einen Weg finden, wie sie co-existieren können.
Aus meiner Erfahrung kann ich behaupten, dass die Heilung nur dort stattfinden kann, wo die Verletzung ursprünglich stattgefunden hat – in der Kindheit. Deswegen praktiziere ich mit meinen Klientinnen die sogenannten Zeitreisen in die Kindheit, zu dem Ort und der Zeit der Verletzung. Wir lernen eigene Grenzen wieder zu spüren und zu bewahren; lernen mit gutem Gefühl und Gewissen Nein zu sagen und entdecken unsere eigenen Wünsche; lernen die Stimme wieder klingen zu lassen, das Gesicht zu zeigen. Wir lernen kontra zu geben und entdecken dabei, das die Welt dadurch nicht zusammenbricht, dass sich die uns nahestehenden Menschen nicht von uns abwenden, dass wir keinen Liebesentzug riskieren und wenn ja, dann ist es ein sicheres Zeichen für eine toxische Beziehung, die ruhig in Frage gestellt werden darf.
Das alles ist ein Prozess und ein Weg zu sich selbst. Aber lohnt es sich, anders zu leben?
Mein Wunsch ist mir Befehl.
Inga Erchova ist Dipl.-Psychologin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Autorin und dreifache Mutter. Erfahre mehr über sie und ihre Arbeitsweise…
Buchvorschau
Psychotherapie am Telefon oder über Skype
Nicht immer müssen wir mit dem Therapeuten im gleichen Raum sein. Das Telefon bietet den Vorteil, dass man in vertrauter Umgebung eigener vier Wände bleibt und sich dadurch besser öffnen kann. Bei einer Sitzung über Skype vergisst man oft die räumliche Distanz und einige Zeitzonen Zeitunterschied.
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