Abschied am Markusplatz.

Am letzten Tag in Venedig ist uns etwas wiederfahren, was im krassen Kontrast war zu dem Rest der Reise. Wir sahen einem Lebewesen beim Sterben zu, mitten auf dem Markusplatz. Wie es alles geschah.

So wie am ersten Tag beschlossen wir am letzten Tag noch ein Mal zum Markusplatz zu laufen, um im Herzen der Stadt von ihr Abschied zu nehmen. Am Platz taumeln sich Massen von Touristen und Tauben. Es war wie am ersten Tag ein warmer sonniger Tag. Nach einem langen Marsch durch die engen Gassen kamen wir endlich am großen lichtdurchfluteten Platz an. Die Seele fühlte sich befreit und unsere Stimmung war ausgelassen. Kinder stürzten sich ins Gewühle.

Die Hauptattraktion am Platz waren die Tauben. Anders als sonst wo sind die Tauben in Venedig sehr zutraulich, sie laufen einem fast in die Hände. Wenn jemand anfängt, die Tauben zu füttern, sammeln sich in kürzester Zeit große Mengen der Vögel, die sich um die Körner oder Brotkrümel reißen. Sie drängen sich in ihrer Gier, schlagen mit den Flügeln und setzen sich gegenseitig fast auf den Kopf. Es entsteht ein chaotisches Gewirr. Touristen fanden es lustig, sie lockten die Tauben und posierten mit ihnen für die Fotos. Manche scheuchten sie auf, um zu sehen wie sie fliegen, brenzlich nah an Menschen vorbei. Kinder jagten ihnen hinterher.

Dieses Spiel mit füttern, anlocken und wegscheuchen wurde mir langsam unheimlich. Ich spürte in mir ein Unbehagen aufsteigen, es war kein faires Spiel. Die Tauben, geblendet vom leichten Futter, liefen den Menschen buchstäblich in die Arme und wurden selbst zur leichten Beute. Normalerweise sind Vögel für Menschen unzugänglich. Sie sind beflügelt und entwischen leicht. Ihr Element ist der Himmel – für den Menschen unerreichbar. Hier war genau das Gegenteil. Und Menschen können mit leichter Beute nicht gut umgehen.

Die Stimmung bauschte sich auf, einige Kinder wurden übermutig, aggressiv, haben die Tauben mit Fuß getreten. Und dann geschah etwas, was die Stimmung zum Kippen gebracht hat. Am Anfang sah es aus, als würden zwei Tauben miteinander kämpfen. Eine Weile haben Leute „dem Kampf“ zugeschaut, doch dann wurde klar, dass etwas nicht stimmte – die Tauben hingen zusammen und kamen nicht voneinander los. Ein Mann hob die Tauben, und das Problem wurde sichtbar – ein Plastikband, ähnlich wie Zahnseide, war am Fuß der einen Taube gewickelt und der Kopf der anderen Taube steckte drin. Mit einem Nagelknipser hat der Mann versuch, das Band zu durchschneiden, doch für eine Taube kam die Hilfe zu spät. Kinder und Erwachsener haben live erlebt, wie ein Lebewesen vor ihren Augen stirbt.

Kurz bevor die Taube starb, war ihr Blick starr, sie griff nach Luft, die Beine eingezogen. Doch in einem Moment  hatte sie die Gewissheit, dass der Kampf verloren war und dass sie sterben wird. In diesem Moment entspannte sich ihr Körper, die Beine streckten sich aus, sie ließ los und atmete tief und langsam aus. Es war kein leichter Anblick. Einige haben sich die Augen zugehalten, andere liefen weg.

Wir alle waren sehr ergriffen. Der Tod, wenn er in die Nähe kommt, fühlt sich kühl und schattig an, wie ein kalter Zug durch die Tür ins Jenseits. So haben wir mit gedeckter Stimmung den Markusplatz verlassen und sind dann auf den Kirchenturm der San Giorgio Kirche hochgefahren, die gegenüber dem Markusplatz auf der anderen Seite der Lagune auf eigener Insel steht. Hier oben genossen wir den atemberaubenden Blick auf die Stadt und waren dem Himmel sehr nah. Eigenartig sahen die Menschenmassen auf dem Hauptplatz von da oben aus wie die Tauben, die sich drängen und gegenseitig auf die Füße treten.

Wir sahen zu allen Richtungen. Irgendwas sagte mir meine Tochter: Mama, wenn wir sterben, dann fliegen wir zu der Taube.