Zugegeben, ich habe eine Weile gebraucht, um mich von der Schockstarre der letzten Wochen zu erholen, bevor ich passende Worte finden konnte, um etwas zum aktuellen Geschehen in der Ukraine zu schreiben. Trotz aller Warnungen habe ich bis zum Schluss nicht daran geglaubt, dass es in meiner ehemaligen Heimat zu einem Krieg kommen könnte. Nun ist es eine neue Realität geworden, auf die ich bis heute nicht klarkomme. Es sind innere Bilder zerstört worden, mit denen ich groß geworden bin.

Ich bin während des Kalten Krieges in der Sowjetunion aufgewachsen. Zum Land gehörten neben Russland noch 14 weitere Republiken, darunter auch die Ukraine. Bei großen Festen präsentierten sich die Vertreter der 15 Republiken gewöhnlich mit ihrer Nationalkleidung, Musik und Tänzen. Der große Tenor war immer: „Wir sind alle Freunde, so unterschiedlich wir auch sein mögen“. Auch nach dem Zerfall der Sowjetunion sind wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen nicht über Nacht verschwunden, sondern wurden auf freiwilliger Basis zwischen unabhängigen Staaten neu beschlossen. Und jetzt, 30 Jahre später, befinden sich Teile meiner ehemaligen Heimat im Krieg! 

Dieses letzte Wort fällt mir tatsächlich sehr schwer auszusprechen, denn noch ein weiteres Bild ist schwer in die Mitleidenschaft gezogen worden, nämlich das Selbstbild der Russen als Befreier, nicht Eroberer. Meine Mutter ist ein Jahr nach dem Ende des zweiten Weltkrieges auf die Welt gekommen. Ihre und meine Generation sind mit dem Bild groß geworden, dass die russische Armee ein Friedensbringer ist, der vom Bösen befreit und die Unschuldigen in Schutz nimmt. In Berliner Treptowpark steht ein Denkmal dem russischen Soldaten mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm. So sehen sich die Russen gerne – herzlich, mitfühlend und integer. Die heutige Situation bringt dieses Bild mächtig ins Schwanken. Daher geht das Wort Krieg bei den Russen nur schwer über die Lippen. Die Obrigkeiten nennen es schlicht militärische Sonderoperationen und versuchen das alte Befreier-Bild neu zu bedienen, indem sie “die Entnazifizierung der Ukraine“ als Grund für den Einmarsch propagiert. Doch so ganz will die Kampagne nicht glücken. Die Stimmung in Russland ist bedrückt, es ist still, nur vereinzelt traut man sich zu protestieren.

Es ist sicherlich nicht das erste dunkle Kapitel in der Beziehung zwischen den beiden Ländern. Ich denke da an die Hungersnot in den 30gern Jahren, der vom Stalin künstlich herbeigeführt wurde, um das Volk zu brechen. Die beiden Mentalitäten sind auch sehr unterschiedlich. Die Ukraine war durch das milde Klima und fruchtbare Schwarzerde schon immer mit relativ höherem Wohlstand verwöhnt. Die Ukrainer sind, aus der Sicht der Russen, auf Wohlstand und Sicherheit bedacht. Die Russen sind in ihren unendlichen Weiten und strengem kontinentalen Klima nicht so geschickt, was die Selbstversorgung betrifft. Man lebt desolat, gibt dem Bedürftigen sprichwörtlich „das letzte Hemd weg“ und bleibt selbst mit nichts.

Wie so oft bei politischen Konflikten sind die Leidtragenden nicht die Anstifter, sondern die unschuldigen Menschen. Sie sind die Geisel der politischen Spielchen der Mächtigen. Dennoch sollten wir angesichts des Mitgefühls mit der leidenden zivilen Bevölkerung nicht unkritisch werden und das große Ganze des Geschehens nicht aus dem Auge verlieren. Wir sollten vielmehr für den Frieden sein! Im Krieg gilt die Logik: töte oder sterbe. Es gibt keine Kompromisse, keinen Mittelweg, keinen Platz für den Wunsch des Anderen. 

Dieser Logik befolgen wir oft unbewusst auch im Alltag, in dem wir glauben, wer nicht unserer Meinung ist, ist automatisch gegen uns. Aber das ist falsch und ist in Wirklichkeit ein infantiler Wunsch nach Unterstützung und Zugehörigkeit, wenn wir uns im inneren unsicher und alleine fühlen. Es ist an der Zeit zu reifen, dann stellt die (Denk)Freiheit des anderen nicht automatisch eine Bedrohung für uns dar.