In gestriger ARD-Talkshow von Anne Will stellte der NRW-Ministerpräsident Hendrik Würst seine Begründung für die allgemeine Impfpflicht folgendermaßen dar: 

„Der Sinn und Zweck (der Impfpflicht) ist, dass wir den Menschen signalisieren können, die alles getan haben in den letzten zwei Jahren, die sich haben impfen lassen, die vorsichtig waren, die sich testen lassen, die Masken tragen: Jetzt sind die anderen dran, die sich bisher geweigert haben.“

Diese Begründung ist alles andere als medizinisch, sondern vielmehr moralischer Natur. Man spürt in ihr das Verlangen nach Gerechtigkeit, nach dem Motto: Wenn wir schon so viele Opfer erbracht haben, dann sollten es die anderen gefälligst ebenfalls tun. Sie erinnerte mich an die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn: 

Der jüngere Sohn verlangt von seinem Vater sein Erbe. Sobald er es erhalten hat, zieht er fort und verprasst das Geld im Ausland. Zum Bettler herabgesunken, arbeitet er als Schweinehirte und hungert dabei so sehr, dass er sich reumütig nach dem Haus seines Vaters zurücksehnt und sich vornimmt, dem Vater seine Sünde zu bekennen und ihn um eine Stelle als geringer Tagelöhner zu bitten. Als er dann tatsächlich nach Hause zurückkehrt, ist der Vater so froh über die Rückkehr seines Sohnes, dass er ihn kaum ausreden lässt und sofort wieder bei sich aufnimmt. Er kleidet ihn festlich ein und veranstaltet ein großes Fest.

Als sich der ältere Sohn, der dem Vater die ganze Zeit über treu gedient hat, über das Verhalten des Vaters beklagt, entgegnet dieser: „Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein. Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden“ (Lk 15,31).

Ich frage mich, ob der ältere Sohn mit der Erklärung des Vaters wirklich zufrieden geblieben ist? Er scheint bei der Geschichte sowieso eher am Rand eine Nebenrolle zu spielen, wie so oft die angepasste Menschen generell im Leben tun.

Es geschieht in vielen Familien, dass Geschwister jeder auf seine Art und Weise um die Liebe der Eltern ringen – die einen mit Gehorsamkeit, Treue und Loyalität, die anderen – mit Verrücktheit, Ausbrechen oder Durchdrehen. Die Letzteren bekommen oft vordergründig mehr Aufmerksamkeit, da sie mehr Lärm generieren. Die „Braven“ kommen scheinbar selbst bestens zurecht. Doch die Braven verzichten oft auf etwas sehr Wertvolles – auf ihre innere Stimme und Bestimmung, sie opfern sich selbst und ihre wahre Natur. Das ist das größte Opfer, das man als Mensch überhaupt erbringen kann. Und das tun sie aus Liebe zu ihren Eltern und erwarten diese Liebe auch im Gegenzug zu bekommen. Doch die Rechnung geht nicht auf, sie bleiben unsichtbar im Hintergrund. Es ist für sie unerträglich zu sehen, dass diejenigen, die sich scheinbar nicht anstrengen, die elterliche Liebe leichter bekommen und hinzu noch sich selbst treu bleiben dürften.

Der ältere Sohn ist in Wirklichkeit derjenige, der sich verloren hat, obwohl oder weil er beim Vater geblieben ist. Der ältere Sohn ist in Wirklichkeit der verlorene Sohn. Und dieser ältere – der brave, angepasste und sich selbst vergessene Sohn – sprach gestern durch den Mund von NRW MP Hendrik Würst und verlang Gerechtigkeit. 

Wie kann man ihm helfen? Sicher nicht, indem man die Ungehorsamen peinigt. Das wäre nur eine schale Genugtuung, Die Aufgabe bleibt bei ihm selbst, sein wahres Ich zu suchen und wieder zum Leben zu erwecken und nicht durch die Angepasstheit die Auseinandersetzung mit sich selbst zu meiden und stattdessen die Lösung im Außen zu suchen.

Rembrandt. Die Rückkehr des verlorenen Sohnes.