Ein Neuanfang

Auch wenn politische Themen derzeit omnipräsent sind, möchte ich heute nicht über Politik schreiben, sondern darüber, wie es ist, etwas Neues anzufangen. Ein Neuanfang kann im Kleinen wie im Großen geschehen – eine neue Frisur, neue Bekanntschaft, ein neues Hobby oder eine neue Gesellschaftsform?

Ich habe vor Tagen meinen größeren Töchtern ihre Haare um ca. die Hälfte der Länge gekürzt und schon fühlen sie sich wie neugeboren, verändert und plötzlich so erwachsen. Sie verhalten sich anders, reden und bewegen sich anders. Ich erinnere mich: Eine neue Frisur war in der Kindheit ein großes Ding. Man fühlte sich wie gehäutet und völlig erneuert.

Auch ich habe einen Neubeginn gewagt und lerne seit Kurzem Trompete spielen. Es ist zauberhaft, ein neues Instrument zu entdecken. Ich spiele Klavier, seitdem ich acht bin und jetzt wage ich mich an ein neues Instrument heran, das ganz anders funktioniert. Klavier ist recht analog: Eine Taste – ein Ton, große Amplitude, es geht in die Weite, an der Tonqualität kann man nicht viel drehen, außer es lauter oder leiser zu spielen. Man fühlt sich mit Musik ein wenig auf Distanz. 

Die Trompete beansprucht den ganzen Körper und geht an das Innigste – deinen Atem, deine Mitte, deine Stimme und dein Kommunikationsorgan. Trompete ist subtiler und mit mehr Seele behaftet als das mechanische Klavier. Ihre Bauart ist recht einfach, fast schon primitiv. Die russische Bezeichnung entspricht dem ganz gut: Auf russisch heißt Trompete nämlich einfach „das Rohr“. Diese Einfachheit fasziniert mich und lässt Tieferes dahinter vermuten.

Auch im Großen können wir Neuanfänge erleben, die oft nach Krisen stattfinden. Ich habe bereits ein Systemwechsel erlebt, als die Sowjetunion zusammenbrach und die ganze Gesellschaft plötzlich vor nichts stand und sich langsam in ein neues System finden musste, nicht ohne Entbehrungen und Leidensdruck. Heute stehen wir vielleicht auch vor tiefgreifenden Veränderungen in der Gesellschaft, deren Ausmaß wir noch nicht einschätzen können. Krisen entstehen, wenn es nicht mehr so weiter gehen kann wie bisher. Dann ist ein Neubeginn der einzige Weg nach vorn.

In meinem beruflichen Alltag ist die Geburt der Kinder der häufigste Neuanfang, mit dem ich konfrontiert werde. Für viele geht es dann auch nicht mehr so weiter wie bisher, dann ist es eine Riesenchance, sich neu zu orientieren, mehr zu sich zu finden, sich mit seinem Wesen zu verbinden und einen Neuanfang zu wagen.

In jedem Anfang ist die ganze Entwicklung bereits enthalten, wie ein Baum im Samenkorn bereit im Keime enthalten ist. Es kommt darauf an, ob wir günstige Bedingungen schaffen können, damit aus dem Samenkorn tatsächlich ein Baum wird. Unser Geist stellt die Weichen und bewirkt, dass aus kleinem Neuanfang eine große schöne Sache werden kann. Nur Mut!

Der Ungehorsam und die Bibel.

In gestriger ARD-Talkshow von Anne Will stellte der NRW-Ministerpräsident Hendrik Würst seine Begründung für die allgemeine Impfpflicht folgendermaßen dar: 

„Der Sinn und Zweck (der Impfpflicht) ist, dass wir den Menschen signalisieren können, die alles getan haben in den letzten zwei Jahren, die sich haben impfen lassen, die vorsichtig waren, die sich testen lassen, die Masken tragen: Jetzt sind die anderen dran, die sich bisher geweigert haben.“

Diese Begründung ist alles andere als medizinisch, sondern vielmehr moralischer Natur. Man spürt in ihr das Verlangen nach Gerechtigkeit, nach dem Motto: Wenn wir schon so viele Opfer erbracht haben, dann sollten es die anderen gefälligst ebenfalls tun. Sie erinnerte mich an die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn: 

Der jüngere Sohn verlangt von seinem Vater sein Erbe. Sobald er es erhalten hat, zieht er fort und verprasst das Geld im Ausland. Zum Bettler herabgesunken, arbeitet er als Schweinehirte und hungert dabei so sehr, dass er sich reumütig nach dem Haus seines Vaters zurücksehnt und sich vornimmt, dem Vater seine Sünde zu bekennen und ihn um eine Stelle als geringer Tagelöhner zu bitten. Als er dann tatsächlich nach Hause zurückkehrt, ist der Vater so froh über die Rückkehr seines Sohnes, dass er ihn kaum ausreden lässt und sofort wieder bei sich aufnimmt. Er kleidet ihn festlich ein und veranstaltet ein großes Fest.

Als sich der ältere Sohn, der dem Vater die ganze Zeit über treu gedient hat, über das Verhalten des Vaters beklagt, entgegnet dieser: „Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein. Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden“ (Lk 15,31).

Ich frage mich, ob der ältere Sohn mit der Erklärung des Vaters wirklich zufrieden geblieben ist? Er scheint bei der Geschichte sowieso eher am Rand eine Nebenrolle zu spielen, wie so oft die angepasste Menschen generell im Leben tun.

Es geschieht in vielen Familien, dass Geschwister jeder auf seine Art und Weise um die Liebe der Eltern ringen – die einen mit Gehorsamkeit, Treue und Loyalität, die anderen – mit Verrücktheit, Ausbrechen oder Durchdrehen. Die Letzteren bekommen oft vordergründig mehr Aufmerksamkeit, da sie mehr Lärm generieren. Die „Braven“ kommen scheinbar selbst bestens zurecht. Doch die Braven verzichten oft auf etwas sehr Wertvolles – auf ihre innere Stimme und Bestimmung, sie opfern sich selbst und ihre wahre Natur. Das ist das größte Opfer, das man als Mensch überhaupt erbringen kann. Und das tun sie aus Liebe zu ihren Eltern und erwarten diese Liebe auch im Gegenzug zu bekommen. Doch die Rechnung geht nicht auf, sie bleiben unsichtbar im Hintergrund. Es ist für sie unerträglich zu sehen, dass diejenigen, die sich scheinbar nicht anstrengen, die elterliche Liebe leichter bekommen und hinzu noch sich selbst treu bleiben dürften.

Der ältere Sohn ist in Wirklichkeit derjenige, der sich verloren hat, obwohl oder weil er beim Vater geblieben ist. Der ältere Sohn ist in Wirklichkeit der verlorene Sohn. Und dieser ältere – der brave, angepasste und sich selbst vergessene Sohn – sprach gestern durch den Mund von NRW MP Hendrik Würst und verlang Gerechtigkeit. 

Wie kann man ihm helfen? Sicher nicht, indem man die Ungehorsamen peinigt. Das wäre nur eine schale Genugtuung, Die Aufgabe bleibt bei ihm selbst, sein wahres Ich zu suchen und wieder zum Leben zu erwecken und nicht durch die Angepasstheit die Auseinandersetzung mit sich selbst zu meiden und stattdessen die Lösung im Außen zu suchen.

Rembrandt. Die Rückkehr des verlorenen Sohnes.

Pandemie der Konformität

Ich habe Sozialpsychologie studiert und schon im Studium vielen Phänomenen des menschlichen Gruppenverhaltens begegnet, die alles andere als rational schienen, sondern oft ungerecht, manchmal brutal oder sogar tödlich. Denken wir nur an die vielen Experimente der 70-er Jahre, die die menschlichen Abgründe zum Tageslicht trugen und die in die Lehrbücher eingingen. Einige wurden sogar verfilmt: Im Film „Experiment“ mit Moritz Bleibtreu z. B. wurden Menschen nach Zufallsprinzip in zwei Gruppen aufgeteilt: Häftlinge und Aufpasser. Diejenigen, die die Macht bekamen, über die anderen zu bestimmen, verhielten sich grausam und bestraften ihre Kommilitonen, als wären diese tatsächlich die schlimmsten Straftäter gewesen. Im anderen Experiment bekamen Probanden die Möglichkeit, andere Teilnehmer für kleine Fehler mit Stromschlag zu bestrafen und die Stromstärke selbst zu regulieren. Sie reizten diese Möglichkeit bis zur tödlichen Stromstärke aus. Wissenschaftler rätselten über die Motive, Beweggründe und über das „Bose“ im Menschen, das scheinbar immanent da ist, nur im Alltag sich kaum zeigt, aber oft dann, wenn es kritisch wird, im Stress oder bei Angst.

Ich will damit auf die heutige Situation hinaus. Ich bin mir sicher, dass die aktuelle Pandemie ebenfalls in die Geschichts- und Lehrbücher eingehen wird, nicht nur für die Mediziner, sondern auch für die Sozialpsychologen. Das Verhalten der Gesellschaft angesichts dieses Stresstests wird die Wissenschaftler noch lange beschäftigen. Wir erleben eine Pandemie der Konformität, Peinigung der Andersdenkenden, Sündenbock-Verhalten, Projektionen und Gegenprojektionen. Der gesunde Menschenverstand scheint ausgesetzt zu haben, es ist nicht möglich, sachlich miteinander zu sprechen ohne dass die Gemüte sich erhitzen.

Nicht das erste Mal in der Geschichte erleben wir die Spaltung, die Ausgrenzung des Andersartigen, die Lust, es von der Erdoberfläche verschwinden zu lassen. Leider ist unser Gedächtnis kurz und die Lernkurve flach.

Ich möchte noch ein Video mit euch teilen. Hier spricht eine Ethik-Professorin aus Kanada – einem behüteten Land, wo die Welt scheinbar noch in Ordnung ist. Doch auch dieses Bild trügt. Ihre Worte sind eindringlich.