von inga | Okt. 15, 2018 | Allgemein, Erziehung, inneres Kind, Kinder, Persönliches Wachstum

Neulich war ich zufällig Zeugin, wie eine Tochter ihrer Mutter ihre Zeichnung präsentierte, und die Mutter sagte dann: „Oh, warum guckt er so traurig? Lass mich die Mundwinkel schnell nach oben ziehen. So, jetzt sieht er fröhlich aus. Wie schön.“
Ich konnte richtig spüren, wie unerträglich es für die Mutter war, eine traurige Gestalt auf der Zeichnung ihrer Tochter zu sehen, umso schneller hat sie diese wieder aus der Welt geschaffen und war sichtlich erleichtert.
Für mich fühlte es sich wie ein Verlust an, wie gerne hätte ich gewusst, was hinter der traurigen Gestalt steckte: Wer war sie? Was hat sie erlebt? Und warum war sie traurig? Man hätte so viel erfahren können über die Fantasie des Kindes aber auch über sein Innenleben, denn die Zeichnungen sind gute Projektionsfläche für Gefühle: Freuden, Ängste oder Sorgen, die das Kind durchmacht und bewältigt. Diese Gefühle sichtbar zu machen hilft Kindern, mit ihnen fertig zu werden.
Leider war mit einem Stichzug all diese Information weggefegt. Was hat das Mädchen aus der Situation gelernt? Vermutlich, dass die Traurigkeit nicht gern gesehen wird, dass man sie besser versteckt oder überspielt, dass ihre Gefühle und Regungen keine Beachtung verdienen, stattdessen dass das fröhliche Erscheinungsbild zählt. Sie wird mit der Zeit verlernen, ihre Gefühle wahrzunehmen und ihnen Beachtung zu schenken. Wenn sie später die Traurigkeit verspürt, wird sie diese eher verdrängen. Doch diese Traurigkeit wird nicht verschwinden, sondern landet im seelischen Schatten – diesem blinden Fleck der Seele, der für uns unbewusst bleibt.
Übertreibe ich nicht? Ist es wirklich so dramatisch? Ich befürchte ja, denn ihre Mama, wie auch viele von uns, lebt es ja bereits vor. Statt hinzusehen, schauen wir lieber weg oder beschönigen. Eine Vogel-Strauß-Strategie: Wenn man die Traurigkeit nicht sieht, dann ist sie anscheinend nicht da. Auch hier ist so viel Information verloren gegangen. Wir könnten uns fragen, warum für uns die Traurigkeit so unerträglich ist? Mussten wir sie auch als Kind schon verstecken? Mussten wir unsere Mama mit stets fröhlichem Gesicht glücklich machen?
Eins ist sicher – wenn man als Kind seine Traurigkeit verstecken musste und sie nicht mit den Eltern teilen durfte, um Trost zu bekommen, dann war man mit seiner Traurigkeit allein. Und das ist das wahre Drama – mit seinen schwierigen Gefühlen alleine fertigwerden zu müssen, schon als Kind, das ist wirklich schwer.
Mein Erlebnis mit den beiden hat keine 5 Sekunden gedauert. Doch ich sah den ganzen restlichen Film dazu. Ich sah, wie auch diese heute erwachsene Frau ihre Gefühle als Kind nicht äußern durfte und alleine mit ihnen fertigwerden musste, ihre Verzweiflung und Not. Daher war das traurige Gesicht auf der Zeichnung der Tochter für sie heute so unerträglich. Es erinnerte sie unbewusst daran, wie schwer es für sie früher war, mit Gefühlen alleingelassen zu werden.
Ist sie deswegen heute eine schlechte Mutter? Nein, aber sie ist wenig bewusst über die Verletzungen ihrer eigenen Kindheit und kann daher ihrer Tochter kaum helfen ein feinfühliger und bewusster Mensch zu werden. Das kann ihre Tochter später als erwachsener Mensch nachholen, wie wir alle auch, wenn wir uns alten Verletzungen stellen. Danach werden alle Gefühle plötzlich berechtigt, richtig und erlaubt, ganz ohne Retusche. Schauen wir also lieber hin, statt weg.
von inga | Okt. 15, 2018 | Allgemein, inneres Kind, Mutter-Kind-Beziehung
In der letzten Wochenendbeilage aller Zeitungen des Schleswig-Holstein Zeitungsverlages (SHZ) erschien ein Interview mit mir. Ich finde, es ist der Redakteurin Sina Wilke sehr gut gelungen, die richtigen Fragen zu stellen und ein zweistündiges Interview auf das Wesentliche zusammenzufassen. Vielen Dank dafür!

von inga | Aug. 17, 2018 | Allgemein, Persönliches Wachstum, Schatten
Wenn du an die Einsamkeit denkst, was kommt dir zuerst in den Sinn? Welches Gefühl verbindest du mit der Einsamkeit?
Diesen Sommer durfte ich gleich zwei Mal jeweils eine Woche lang die Einsamkeit erleben.
Als alleinerziehende Mutter mit drei Kindern bin ich selten allein. Die knappen Stunden alleine, während die Kinder in der Schule oder im Kindergarten sind, sind schnell gefüllt mit Arbeit, Besorgungen und Haushalt. In den Ferien fällt die kostbare Zeit alleine ganz weg. Ich merke, dass es mir in der Ferienzeit schwerer fällt, mich um die Kinder zu kümmern. Die Kraft, ihnen Zuwendung zu schenken, schwindet, das Nervenkostüm wird dünner und die Geduld umso knapper. Die Zeit alleine gibt mir also die Möglichkeit, wieder zu mir zu finden und Kraft zu tanken. Doch nicht immer erleben wir es so.
Als ich noch vor einem Jahr unerwartet eine Woche lang Zeit für mich „geschenkt“ bekam, während meine Kinder mit ihrem Papa kurzfristig in Urlaub gefahren sind, fiel ich wie in ein Loch. Die absolute Stille im Haus war unerträglich. Ich suchte mir schnell einen Sprachkurs, der mich fünf Stunden am Tag eine Woche lang beschäftigt hielt. So kam ich über die Zeit hinweg.
Diesen Sommer fühlt sich für mich die Zeit alleine wie ein Geschenk. Die erste Woche bin ich zuhause geblieben. Ich genoss die Ruhe, die Stille, das Faulenzen, das Nichtstun und niemanden bedienen zu müssen. Ich spielte ausgiebig Klavier, pflückte Kirschen im Garten direkt in den Mund, bis ich satt war oder fuhr mit dem Fahrrad bis nach Dänemark. Ich ging zum Strand, legte mich hin und schloss die Augen – was für ein Luxus, auf niemanden aufpassen zu müssen! Ich las bis tief in die Nacht, schlief mit offener Balkontür, wurde von Möwen in den Schlaf gesungen und morgens wieder aufgeweckt. Ich frühstückte ausgiebig lang und ging abends Tangotanzen.
In der zweiten Woche entschloss ich mich zum Tapetenwechsel und fuhr nach Berlin. Hier traf ich Laura – Tango-Lehrerin, die ich vor einiger Zeit beim Festival kennenlernte und die mich sehr bewegte. Zu ihr spürte ich sofort eine tiefe Verbindung. Ich lernte mit ihr Tanzen und am Abend gingen wir zusammen zu Berliner Milongas (Tangotanzabende).
Obwohl ich aus meiner früheren Zeit in Berlin noch viele Leute kenne, beschloss ich mich bewusst, niemanden anzurufen. Nur die Zeit mit meiner Lehrerin sollte im Mittelpunkt stehen, ihre Stimme und Worte sollten in mir ihre Nachwirkung entfalten.
In der übrigen Zeit genoss ich die Einsamkeit. Der Lärm der Großstadt stand im Kontrast zu der Stille in mir. Ich fühlte mich wie im Auge des Wirbelsturms, wo alles wie in der Zeitlupe stehen bleibt. Ich habe nur wenige Worte am Tag gesprochen, und das entspannte mich.
Wenn man alleine ist, fehlt die Erinnerung von außen daran, wer man eigentlich ist, oder? Wenn meine Kinder zum Beispiel um mich herum sind und ständig etwas von mir verlangen, dann erinnern sie mich konstant daran, dass ich Mutter bin und dies oder jedes zu tun habe. Wenn sie nicht da sind, „vergesse“ ich es fast. Ich liege im Park auf dem Rasen mit geschlossenen Augen, lasse die Sonnenstrahlen meine Haut erwärmen, tauche in die Geräuschkulisse hinein, nicke wie im Sekundenschlaf weg und vergesse für einen Moment, wo ich eigentlich bin, und wer ich bin. Ich musste mich einen Moment sammeln, um mich wieder daran zu erinnern, verrückt.
Wenn die Referenz von außen fehlt, kommt unser Innenleben umso mehr zum Ausdruck. Die Einsamkeit lässt das Innere in uns aufsteigen: die Nöte und die Sorgen, das Nicht-Abgeschlossene, das Unfertige, das Suchende und das Wollende. Man kann hineinlauschen, oder davon rennen, je nachdem, wie wir uns gerade fühlen. Die Zeit alleine kann als belastend oder entspannend empfunden werden, doch sie hilft immer der Seelenhygiene und ist ein guter Indikator unserer aktuellen seelischen Verfassung.
Was ist die Einsamkeit für dich im Moment?

Ländlicher Fahrradweg

Mit dem Leihfahrrad durch Berlin

Die späte Milonga

Mit Laura <3
von inga | Juni 11, 2018 | Allgemein, Erziehung, inneres Kind, Kinder, Mutter-Kind-Beziehung, Schatten

Foto: Bauforum24
Sonntagabend Zuhause. Es klingelt an der Tür. „Na, wer klingelt denn um diese Uhrzeit?“, fragte meine Tochter verwundert.
„Hallo?“, – melde ich mich an der Sprechanlage.
„Post!“, – sagt eine Frauenstimme, forsch und leicht drängelnd, so wie ein gewöhnlicher Postbote es sagen würde.
„Am Sonntag?“, – frage ich ungläubig zurück.
„Ja!“ – ziemlich frech und diesmal deutlich drängelnder sagt die Stimme, und fügt dann hinzu: „Ich muss für meine Freundin etwas einwerfen“.
Wie fremdgesteuert drücke ich auf die Taste und mache ihr die Hauseingangstür auf.
Schon wenige Augenblicke später überkommt mich unbehagliches Gefühl, wie aus dem Nichts überrollt worden zu sein. Das Gedankenkarussell geht los: „Sie hat mich aber leicht um den Finger wickeln können. Wer ist sie überhaupt und warum klingelt sie bei mir? Als würde sie gewusst haben, dass sie bei mir ein leichtes Spiel hat. Warum habe ich nicht weiter nachgefragt? Warum war ich so leichtgläubig und nachgiebig? Es könnte ja auch nur ein Trick gewesen sein, um ins Haus hereinzukommen. Usw., usw.
Schnell wurde mir klar, hier wurden Seiten in mir belebt, mit denen ich kein Freund bin – mein Schatten. Diese unbeliebten Seiten von mir sind meine alten Bekannten – die Unfähigkeit, meine Grenzen zu bewahren, Nein zu sangen, kontra zu geben oder schlagfertig zu antworten. In mich kann man so hineingreifen, wie in einen Sahnepudding. Wie weiche Butter für ein Messer leiste ich keinerlei Widerstand. Bzw. doch, wenn ich die Zeit zum Nachdenken habe, aber nicht wenn sich der Autopilot einschaltet und die gewohnten Muster automatisch abspielt.
Bekannt ist mir das alles ja schon lange und ich arbeite auch schon lange daran. Die Situation hat mir nur gezeigt, dass ich mit meiner Arbeit offenbar noch nicht so weit gekommen bin. Da kommt Ärger hoch. Die eigenen Schwächen so leicht vorgeführt zu bekommen, uff. Dann die erste Entwarnung: Zumindest konnte ich den aufgekommenen Ärger gleich lokalisieren und habe ihn nicht etwa an meinen Kindern abreagiert. Gut gemacht! Erst später am Abend, wenn meine Kinder im Bett waren, habe ich mir den Vorfall noch mal vorgenommen, mich in eine entspannte Lage begeben und in mich hineingeschaut.
Zunächst habe ich den Vorfall wie in Zeitlupe noch einmal durchlebt und auf meine Gefühle in jedem Augenblick geachtet.
- Es klingelt: Mich treibt die Neugier zur Sprechanlage. Was ich erwarte? Einen netten Überraschungsbesucher vielleicht, der sagt: „Hey, wie geht es dir? Wollte nur kurz Hallo sagen.“ Fehlanzeige, *grmpf*.
- Die Stimme: „Post!“: Ich spüre meinen Zweifel, doch der Nachdruck der Stimme lässt meine Skepsis weichen. Die Stimme klingt forsch und frech. Ich merke, da ist mehr im Spiel und schaue jetzt in meine Vergangenheit: Wann habe ich mich so ähnlich gefühlt? Tatsächlich hat mich meine (sehr dominante) Mutter oft gedrängelt. „Los, los, los, los!“ peitschte sie mich an, damit sie ihren Alltag bewältigt bekommt. Ich erinnere mich gut an das Gefühl, wie von einer Asphaltwalze überrollt zu werden, absolute Ohnmacht. Ich hatte keine Chance, ihr etwas entgegenzusetzen und fügte mich dem Druck. Und ja, mit der Zeit wurde daraus Automatismus, der offenbar bis heute andauert, besonders wenn dieser Druck wie aus dem Nichts kommt und mich unvorbereitet trifft.
- „Ich muss etwas für die Freundin reinwerfen“. Dieser Satz hat eine andere Seite in mir berührt – nett zu anderen sein zu wollen (oder müssen?) Etwas für die Freundin, wie kann ich da Nein sagen? Es kam mir nicht mal in den Sinn zu fragen, warum sie dann bei mir klingelt? „Entschuldigen Sie, ich kenne Sie nicht und mache nicht auf“, würde ich jetzt sagen wollen. Doch ich wollte nett sein, Ja sagen, helfen. Wo kommt das wieder her? Ich schaue wieder in meine Kindheit hinein und werde sofort fündig: Ich durfte nie frech sein, ausgelassen toben oder mir „Blödsinn“ erlaufen. Das gewünschte Bild, das ich abgeben musste war ein gut erzogenes, „seriöses“ Mädchen ohne „Flusen“ im Kopf. Bis heute vermisse ich diese freche Seite in mir. Ich denke, daher kommt meine Unfähigkeit, witzig zu sein, anzuecken oder zu provozieren, denn dann bin ich ja nicht „seriös“. Auch diesen Knopf in mir hat die vermeintliche Postbotin in der kürzesten Zeit drücken können.
- Ich realisierte, dass der Ärger, den ich kurz nach dem Türöffnen verspürt habe, sich in Wirklichkeit nicht gegen die Frauenstimme von der Straße richtete, sondern gegen meine Mutter. Wahrscheinlich war es tatsächlich nur eine Freundin, die eine Nettigkeit vorbereitet hat. Und ihre freche Art war gar nicht böse gemeint, sondern nur spielerisch. Ich habe sie nur so erlebt. Den Ärger konnte ich nun richtig zuordnen.
Ich konnte meine Ohnmacht wieder spüren. Und ja, als Kind war ich ohnmächtig, weil ich klein war. Heute bin ich groß und kann kontra geben, wenn ich das will. Und wenn es mich das nächste Mal wieder unvorbereitet trifft, werde ich sehen, ob ich im Überwinden meiner Automatismen einen Minischritt weitergekommen bin. Auf dem Weg der Verarbeitung kindlicher Verletzungen werden wir wohl nie wirklich am Ziel ankommen und diese wie ungeschehen machen können, aber es ist wichtig, dass wir diesen Weg gehen und in uns hineinsehen, sonst würden wir die Menschen in unsere Umgebung, besonders unsere Kinder und den Partner, als „Mülleimer“ für all die schlechten Gefühle in uns benutzen. Wollen wir das?
Und so war es am Ende doch ein netter Überraschungsbesucher. Es war mein Schatten, der an der Tür klingelte.
von inga | Apr. 23, 2018 | Allgemein, Erziehung, Mutter-Kind-Beziehung
In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Eltern (Mai 2018) ist der Blick in die eigene Kindheit das Titelthema. Wie beeinflußt das, was wir als Kinder erlebt haben, unsere heutige Beziehung zu eigenen Kindern? Kann man daran arbeiten, auch wenn man die Vergangenheit nicht mehr ändern kann? Ich durfte mit einem Interview zu der Titelthema-Diskussion beitragen 🙂

