Der falsche Postbote.

Der falsche Postbote.

Foto: Bauforum24

 

Sonntagabend Zuhause. Es klingelt an der Tür. „Na, wer klingelt denn um diese Uhrzeit?“, fragte meine Tochter verwundert.

„Hallo?“, – melde ich mich an der Sprechanlage.

„Post!“, – sagt eine Frauenstimme, forsch und leicht drängelnd, so wie ein gewöhnlicher Postbote es sagen würde.

„Am Sonntag?“, – frage ich ungläubig zurück.

„Ja!“ – ziemlich frech und diesmal deutlich drängelnder sagt die Stimme, und fügt dann hinzu: „Ich muss für meine Freundin etwas einwerfen“.

Wie fremdgesteuert drücke ich auf die Taste und mache ihr die Hauseingangstür auf.

Schon wenige Augenblicke später überkommt mich unbehagliches Gefühl, wie aus dem Nichts überrollt worden zu sein. Das Gedankenkarussell geht los: „Sie hat mich aber leicht um den Finger wickeln können. Wer ist sie überhaupt und warum klingelt sie bei mir? Als würde sie gewusst haben, dass sie bei mir ein leichtes Spiel hat. Warum habe ich nicht weiter nachgefragt? Warum war ich so leichtgläubig und nachgiebig? Es könnte ja auch nur ein Trick gewesen sein, um ins Haus hereinzukommen. Usw., usw.

Schnell wurde mir klar, hier wurden Seiten in mir belebt, mit denen ich kein Freund bin – mein Schatten. Diese unbeliebten Seiten von mir sind meine alten Bekannten – die Unfähigkeit, meine Grenzen zu bewahren, Nein zu sangen, kontra zu geben oder schlagfertig zu antworten. In mich kann man so hineingreifen, wie in einen Sahnepudding. Wie weiche Butter für ein Messer leiste ich keinerlei Widerstand. Bzw. doch, wenn ich die Zeit zum Nachdenken habe, aber nicht wenn sich der Autopilot einschaltet und die gewohnten Muster automatisch abspielt.

Bekannt ist mir das alles ja schon lange und ich arbeite auch schon lange daran. Die Situation hat mir nur gezeigt, dass ich mit meiner Arbeit offenbar noch nicht so weit gekommen bin. Da kommt Ärger hoch.  Die eigenen Schwächen so leicht vorgeführt zu bekommen, uff. Dann die erste Entwarnung: Zumindest konnte ich den aufgekommenen Ärger gleich lokalisieren und habe ihn nicht etwa an meinen Kindern abreagiert. Gut gemacht! Erst später am Abend, wenn meine Kinder im Bett waren, habe ich mir den Vorfall noch mal vorgenommen, mich in eine entspannte Lage begeben und in mich hineingeschaut.

Zunächst habe ich den Vorfall wie in Zeitlupe noch einmal durchlebt und auf meine Gefühle in jedem Augenblick geachtet.

  • Es klingelt: Mich treibt die Neugier zur Sprechanlage. Was ich erwarte? Einen netten Überraschungsbesucher vielleicht, der sagt: „Hey, wie geht es dir? Wollte nur kurz Hallo sagen.“ Fehlanzeige, *grmpf*.
  • Die Stimme: „Post!“: Ich spüre meinen Zweifel, doch der Nachdruck der Stimme lässt meine Skepsis weichen. Die Stimme klingt forsch und frech. Ich merke, da ist mehr im Spiel und schaue jetzt in meine Vergangenheit: Wann habe ich mich so ähnlich gefühlt? Tatsächlich hat mich meine (sehr dominante) Mutter oft gedrängelt. „Los, los, los, los!“ peitschte sie mich an, damit sie ihren Alltag bewältigt bekommt. Ich erinnere mich gut an das Gefühl, wie von einer Asphaltwalze überrollt zu werden, absolute Ohnmacht. Ich hatte keine Chance, ihr etwas entgegenzusetzen und fügte mich dem Druck. Und ja, mit der Zeit wurde daraus Automatismus, der offenbar bis heute andauert, besonders wenn dieser Druck wie aus dem Nichts kommt und mich unvorbereitet trifft.
  • „Ich muss etwas für die Freundin reinwerfen“. Dieser Satz hat eine andere Seite in mir berührt – nett zu anderen sein zu wollen (oder müssen?) Etwas für die Freundin, wie kann ich da Nein sagen? Es kam mir nicht mal in den Sinn zu fragen, warum sie dann bei mir klingelt? „Entschuldigen Sie, ich kenne Sie nicht und mache nicht auf“, würde ich jetzt sagen wollen. Doch ich wollte nett sein, Ja sagen, helfen. Wo kommt das wieder her? Ich schaue wieder in meine Kindheit hinein und werde sofort fündig: Ich durfte nie frech sein, ausgelassen toben oder mir „Blödsinn“ erlaufen. Das gewünschte Bild, das ich abgeben musste war ein gut erzogenes, „seriöses“ Mädchen ohne „Flusen“ im Kopf. Bis heute vermisse ich diese freche Seite in mir. Ich denke, daher kommt meine Unfähigkeit, witzig zu sein, anzuecken oder zu provozieren, denn dann bin ich ja nicht „seriös“. Auch diesen Knopf in mir hat die vermeintliche Postbotin in der kürzesten Zeit drücken können.
  • Ich realisierte, dass der Ärger, den ich kurz nach dem Türöffnen verspürt habe, sich in Wirklichkeit nicht gegen die Frauenstimme von der Straße richtete, sondern gegen meine Mutter. Wahrscheinlich war es tatsächlich nur eine Freundin, die eine Nettigkeit vorbereitet hat. Und ihre freche Art war gar nicht böse gemeint, sondern nur spielerisch. Ich habe sie nur so erlebt. Den Ärger konnte ich nun richtig zuordnen.

Ich konnte meine Ohnmacht wieder spüren. Und ja, als Kind war ich ohnmächtig, weil ich klein war. Heute bin ich groß und kann kontra geben, wenn ich das will. Und wenn es mich das nächste Mal wieder unvorbereitet trifft, werde ich sehen, ob ich im Überwinden meiner Automatismen einen Minischritt weitergekommen bin. Auf dem Weg der Verarbeitung kindlicher Verletzungen werden wir wohl nie wirklich am Ziel ankommen und diese wie ungeschehen machen können, aber es ist wichtig, dass wir diesen Weg gehen und in uns hineinsehen, sonst würden wir die Menschen in unsere Umgebung, besonders unsere Kinder und den Partner, als „Mülleimer“ für all die schlechten Gefühle in uns benutzen. Wollen wir das?

Und so war es am Ende doch ein netter Überraschungsbesucher. Es war mein Schatten, der an der Tür klingelte.

Abschied am Markusplatz.

Am letzten Tag in Venedig ist uns etwas wiederfahren, was im krassen Kontrast war zu dem Rest der Reise. Wir sahen einem Lebewesen beim Sterben zu, mitten auf dem Markusplatz. Wie es alles geschah.

So wie am ersten Tag beschlossen wir am letzten Tag noch ein Mal zum Markusplatz zu laufen, um im Herzen der Stadt von ihr Abschied zu nehmen. Am Platz taumeln sich Massen von Touristen und Tauben. Es war wie am ersten Tag ein warmer sonniger Tag. Nach einem langen Marsch durch die engen Gassen kamen wir endlich am großen lichtdurchfluteten Platz an. Die Seele fühlte sich befreit und unsere Stimmung war ausgelassen. Kinder stürzten sich ins Gewühle.

Die Hauptattraktion am Platz waren die Tauben. Anders als sonst wo sind die Tauben in Venedig sehr zutraulich, sie laufen einem fast in die Hände. Wenn jemand anfängt, die Tauben zu füttern, sammeln sich in kürzester Zeit große Mengen der Vögel, die sich um die Körner oder Brotkrümel reißen. Sie drängen sich in ihrer Gier, schlagen mit den Flügeln und setzen sich gegenseitig fast auf den Kopf. Es entsteht ein chaotisches Gewirr. Touristen fanden es lustig, sie lockten die Tauben und posierten mit ihnen für die Fotos. Manche scheuchten sie auf, um zu sehen wie sie fliegen, brenzlich nah an Menschen vorbei. Kinder jagten ihnen hinterher.

Dieses Spiel mit füttern, anlocken und wegscheuchen wurde mir langsam unheimlich. Ich spürte in mir ein Unbehagen aufsteigen, es war kein faires Spiel. Die Tauben, geblendet vom leichten Futter, liefen den Menschen buchstäblich in die Arme und wurden selbst zur leichten Beute. Normalerweise sind Vögel für Menschen unzugänglich. Sie sind beflügelt und entwischen leicht. Ihr Element ist der Himmel – für den Menschen unerreichbar. Hier war genau das Gegenteil. Und Menschen können mit leichter Beute nicht gut umgehen.

Die Stimmung bauschte sich auf, einige Kinder wurden übermutig, aggressiv, haben die Tauben mit Fuß getreten. Und dann geschah etwas, was die Stimmung zum Kippen gebracht hat. Am Anfang sah es aus, als würden zwei Tauben miteinander kämpfen. Eine Weile haben Leute „dem Kampf“ zugeschaut, doch dann wurde klar, dass etwas nicht stimmte – die Tauben hingen zusammen und kamen nicht voneinander los. Ein Mann hob die Tauben, und das Problem wurde sichtbar – ein Plastikband, ähnlich wie Zahnseide, war am Fuß der einen Taube gewickelt und der Kopf der anderen Taube steckte drin. Mit einem Nagelknipser hat der Mann versuch, das Band zu durchschneiden, doch für eine Taube kam die Hilfe zu spät. Kinder und Erwachsener haben live erlebt, wie ein Lebewesen vor ihren Augen stirbt.

Kurz bevor die Taube starb, war ihr Blick starr, sie griff nach Luft, die Beine eingezogen. Doch in einem Moment  hatte sie die Gewissheit, dass der Kampf verloren war und dass sie sterben wird. In diesem Moment entspannte sich ihr Körper, die Beine streckten sich aus, sie ließ los und atmete tief und langsam aus. Es war kein leichter Anblick. Einige haben sich die Augen zugehalten, andere liefen weg.

Wir alle waren sehr ergriffen. Der Tod, wenn er in die Nähe kommt, fühlt sich kühl und schattig an, wie ein kalter Zug durch die Tür ins Jenseits. So haben wir mit gedeckter Stimmung den Markusplatz verlassen und sind dann auf den Kirchenturm der San Giorgio Kirche hochgefahren, die gegenüber dem Markusplatz auf der anderen Seite der Lagune auf eigener Insel steht. Hier oben genossen wir den atemberaubenden Blick auf die Stadt und waren dem Himmel sehr nah. Eigenartig sahen die Menschenmassen auf dem Hauptplatz von da oben aus wie die Tauben, die sich drängen und gegenseitig auf die Füße treten.

Wir sahen zu allen Richtungen. Irgendwas sagte mir meine Tochter: Mama, wenn wir sterben, dann fliegen wir zu der Taube.

Wie wir unsere Kinder vom sexuellen Missbrauch schützen können.

Wie wir unsere Kinder vom sexuellen Missbrauch schützen können.

Wie wir unsere Kinder vom sexuellen Missbrauch schützen können.

Als ich die TV-Doku über die Oldenwaldschuhle gesehen habe, wo sexueller Missbrauch in den 70er und 80er ein Massenphänomen war und täglich stattgefunden hat, hat mich eine Sache stutzig gemacht: Bei weitem nicht alle Kinder waren betroffen. Es gab viele Kinder, die Missbrauchsversuche haben von sich abprallen lassen. In der Doku schilderten diese, heute erwachsenen Schüler des Internats, wie sie sich schützen konnten: „Ich habe mein Schlafzimmer einfach immer abgeschlossen, so konnte niemand hineintreten.“ „Nachdem mich der Lehrer beim Duschen belästigt hat, bin ich einfach nicht mehr duschen gegangen.“

Im Kontrast dazu schilderten die betroffenen Kinder das Gefühl der Schutzlosigkeit, den Druck, sich dem Willen der Mächtiger fügen zu müssen. Sie empfanden, dass sie kein Recht hatten, nein zu sagen und nirgendwo Hilfe bekommen konnten.

Die äußeren Umstände waren also eine Sache, der innere Schlüssel, der die Übergriffe erst möglich gemacht hat – eine andere. Und über diese inneren Faktoren möchte ich heute sprechen. Was macht ein Kind zum leichten Opfer sexueller Belästigung, und was macht ein anderes Kind immun dagegen?

Gelernte Hilfslosigkeit

In der Psychologie existiert der Begriff „gelernte Hilfslosigkeit“. Er entstand durch die Experimente, in denen Tieren in geschlossenen Käfigen Schmerzen zugefügt wurden. Tiere konnten nicht fliehen und waren der Gewalt ausgeliefert. Später wurden die Käfige geöffnet und die Tiere bekamen die Möglichkeit zu fließen, doch sie sind drin geblieben und haben weiterhin gelitten. Es lag wohl daran, dass sie die erfahrene Hilfslosigkeit als dauerhaftes Gefühl verinnerlicht hatten. Sie war für sie nicht mehr bloß eine zufällige Situation, der sie entfliehen konnten. So fühlen sich oft Kinder, die Missbrauchsopfer geworden sind: Sie haben das Gefühl, sie können nichts dagegen tun, unternehmen keine Befreiungsversuche und suchen keine Hilfe auf, weil das Gefühl der Hilfslosigkeit bereits in ihnen lebt, noch lange bevor der Missbrauch stattgefunden hat.

Körpernähe beim Großwerden

Im Umgang mit dem Nachwuchs ist enger Körperkontakt natürlich für alle Säugetiere, zu Gattung deren wir Menschen gehören. Doch in der westlichen Kultur entdecken wir seine Wichtigkeit erst gerade neu. Ein wohlwollender Körperkontakt ist für Kinder ein wichtiger Wohlfühlfaktor, und je kleiner diese sind, desto wichtiger er ist. Nur in den Armen seiner Mutter (oder Ersatzperson) fühlt sich ein Baby sicher und geschützt, bis es mit der Zeit lernt, sich eigenständig fortzubewegen. Auch dann und später bleibt der Körper der Eltern für das Kind ein sicherer Hafen, wo es Schutz, Trost oder Schmerzlinderung finden kann. Bleibt dieser aus, entsteht ein dauerhaftes Gefühl der Schutzlosigkeit, Schuldgefühle oder das Gefühl der Minderwertigkeit. Der Entzug der Körpernähe ist für Kinder unerträglich und ist bereits Missbrauch per se.

Der Körper ist für Kinder nicht nur die Quelle des Wohlbefindens. Er ist auch die natürliche Quelle des Genusses. Babys geben oft genüssliche Töne von sich, wenn sie an der Mutterbrust trinken. Sie berühren mit der Hand die andere Brust und streicheln sie. Nur ein in westlicher Kultur sozialisierter Erwachsener kann darin etwas Anrüchiges sehen. Wenn ein Baby genug an der Brust getrunken hat, schläft es in Wonne ein. Wenn ein Baby mit seiner Mutter die Nähe Haut an Haut genießen und sich mit ihr in Wonne verbinden kann, wenn die Körper sich umschlingen und die beiden sich wie im Tanz des Lebens eins fühlen, dann können diese Babys später als Erwachsene mit einem Anderen dieses Gefühl der Schwerelosigkeit wieder erleben; sie können sich fallen lassen, ihre Körperlichkeit genießen und nicht zuletzt ihren eigenen Kindern diesen sicheren Hafen bieten.

Der Entzug der Körpernähe dagegen führt bei den Kindern dazu, dass ihre Körper einfrieren. Das Bedürfnis nach körperlicher Nähe verschwindet nicht, und wenn ein anderer, fremder Mensch diesen zu bedienen versucht, dann können Kinder leicht darauf ansprechen. Täter wissen ihre potenziellen Opfer gut zu erkennen: Es sind Kinder, die ausgehungert sind nach Nähe, Liebe und Trost.

Hier möchte ich aufführen, was wir Eltern tun können, um unsere Kinder vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Der erste Punkt liegt auf der Hand:

  1. Unsere Kinder lieben

Während meiner psychotherapeutischen Arbeit mit Opfern sexueller Übergriffe stelle ich oft fest, dass diese Kinder in extremer Einsamkeit aufgewachsen sind. Sie wurden nicht gesehen, nicht beachtet und nicht wertschätzt. Die Täter – meist Vertraute der Familie – waren oft die ersten Personen in ihrem Leben, die ihnen Beachtung geschenkt haben, die sie gelobt oder ihnen zugehört haben, die ihnen Geschenke gemacht haben und die gemeinsame Zeit als etwas Positives gewertet haben. Stattdessen fühlten sich diese Kinder bei den eignen Eltern als Belastung.

Kinder sehnen sich nach Liebe. Wenn sie zuhause keine Liebe erfahren, suchen sie diese woanders. Aufgrund ihrer Unreife können Kinder selbstverständlich nicht zwischen echter Liebe und eigennützigem Verhalten der Täter unterscheiden und werden leicht zu Opfer.

  1. Warmherzigen Körperkontakt pflegen

Wie oben beschrieben ist wohlwollender Körperkontakt ein unabdingbarer Teil der kindlichen Entwicklung. Doch es ist leichter gesagt als getan. Die Generation heutiger Eltern hat in ihrer Mehrheit einen abrupten Entzug der Körpernähe nach der Geburt erlitten – mit verheerenden Folgen besonders für uns Frauen. Unsere Körper sind eingefroren aus Schutz vor unerträglichem Schmerz. Daher können wir nicht gebären, nicht stillen, nicht mit unseren Babys zusammenschlafen oder diese auf dem Arm beruhigen. Man kann nur schwer geben, was man nicht bekommen hat. Wenn ich meine Tochter vom Kindergarten abhole und sie in der Umkleide umarme, dann stehen immer die gleichen zwei Kinder um uns herum und starren uns verdutzt an, als würden sie selbst Umarmungen solcher Art nicht kennen.

Wenn ein anderer Mensch die fehlende Körpernähe bei unseren Kindern zu bedienen versucht, stoßt er auf ein großes unbefriedigtes Bedürfnis. Das Korn fällt auf den fruchtbaren Boden und das Unglück geschieht.

  1. Persönliche Grenzen der Kinder bewahren

Auch in solchen Fällen, in denen Opfer spüren, dass ihnen unrecht geschieht und dass sie es nicht möchten, lassen sie den Missbrauch oft trotzdem über sich ergehen. Sie können keine Grenzen ziehen und nicht nein sagen. Wenn persönliche Grenzen des Kindes zu Hause permanent verletzt werden, etabliert sich ein dauerhaftes Gefühl des Ausgeliefertseins. Wir verletzen die Grenzen des Kindes, indem wir ihm z. B. keine Rückzugsmöglichkeit gewähren, wenn wir seine persönlichen Gegenstände abwertend behandeln, wenn wir zu starre Regeln aufstellen, das Kind permanent dominieren oder seine natürlichen Impulse unterdrücken. Die Missachtung kindlicher Bedürfnisse ist auch die Verletzung seiner Integrität.

Wenn wir die Grenzen des Kindes bewahren, so lernt das Kind, seine Grenzen selbst zu beachten. Es spürt, wenn diese verletzt werden und gibt Kontra. Opfer dagegen sind es gewohnt, dass ihre Grenzen verletzt werden und verlieren diese oft komplett. Sie kennen das Ausgeliefertsein zu gut, lassen den Missbrauch über sich ergehen und leiden stillschweigend.

Persönliche Grenzen ist der Schutzraum und Rückzugsort jedes Menschen. Wir sind uns doch einig, dass ein Nein Nein bedeutet. Das gilt für Erwachsene, warum nicht für Kinder?

  1. Den Kindern Gehör verschaffen

Viele Opfer haben keine Anlaufstelle für ihr Anliegen, denn ihre Eltern nehmen sie nicht ernst oder erklären sie zu Schuldigen.

Den Kindern Gehör zu verschaffen bedeutet, ihre Bedürfnisse zu beachten. Und das fängt schon im Babyalter an. Nach der Geburt erwartet das Baby, dass es so weitergeht wie vor der Geburt. Das bedeutet permanente Berührung, permanente Bewegung, permanente Ernährung, die Nähe, die Wärme, den Schutz, etc.

Später schenken wir Beachtung den Schwierigkeiten, die das Kind am Spielplatz, im Kindergarten oder in der Schule erlebt. Ob es Albträume, Liebeskummer, Hänseln oder Lernschwierigkeiten sind, wir dürfen Anliegen der Kinder nicht herunterspielen, sondern sie ernst nehmen und echte Hilfe leisten. So verinnerlicht das Kind, dass ihm Hilfe jederzeit zusteht, wenn es diese braucht.

  1. Beschämung ist ein no-go

Ich glaube, dass es jedem klar ist, dass der Körper des Kindes niemals eine Zielscheibe für Beschämung sein darf. Selbst ein „harmloses“ Sticheln über etwaige körperlichen Unzulänglichkeiten ist gemein und erzeugt Schamgefühl. Mit Scham geplagtes Kind wird einen Missbrauchsvorfall niemals an die Öffentlichkeit tragen und bleibt Geisel seiner Lage.

  1. Eigenes Körpergefühl unter die Lupe nehmen

Last but not least. Es ist sehr wichtig, dass wir Eltern unsere eigene Lebensgeschichte unter die Lupe zu nehmen und nachfühlen, wie wir uns im eigenen Körper fühlen, was wir als Kinder erlebt haben, welche Verletzungen wir in uns tragen und was wir noch aufarbeiten können. Denn viele Verhaltensmuster kommen nicht aus böser Absicht, sondern sind unwillkürliche Wiederholung eigener Erfahrungen. Wenn wir beschämt wurden, beschämen wir andere; wenn wir Kälte erfahren haben, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir selbst kalt sind, ohne es zu merken. Sich mit den Verletzungen der eigenen Kindheit zu verbinden, lässt unseren Körper wieder auftauen und zu spüren, wo die echte Liebe fließt und wo welche nur vorgegaukelt wird.

Abschließend bleibt mir nur zu konstatieren, dass wir zunächst die Augen dafür öffnen müssen, was bei uns zu Hause geschieht, bevor wir nach Schuldigen da draußen suchen. Denn betroffene Kinder sind nicht nur Opfer sexueller Gewalt, sie sind in erster Linie Opfer endloser Einsamkeit.

 

 

Über mich

Inga Erchova ist Dipl.-Psychologin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Autorin und dreifache Mutter. Erfahre mehr über sie und ihre Arbeitsweise…

Mein Buch

Jede Mutter kann glücklich sein

Psychotherapie am Telefon oder über Skype

Nicht immer müssen wir mit dem Therapeuten im gleichen Raum sein. Das Telefon bietet den Vorteil, dass man in vertrauter Umgebung eigener vier Wände bleibt und sich dadurch besser öffnen kann. Bei einer Sitzung über Skype vergisst man oft die räumliche Distanz und einige Zeitzonen Zeitunterschied.

© 2022 Inga Erchova  Kontakt · Impressum · Datenschutz

Da sein.

Meine Tochter ist krank – sie hat Kopfschmerzen, ihr ist übel und sie liegt im Bett. Mal klagt sie leise, mal stöhnt vor Schmerzen.

Wahrscheinlich ist es „nur“ die Aufregung vor dem anstehenden Zeugnisgespräch in der Schule. Muss sie denn immer so empfindlich sein, alles so sehr zu Herzen nehmen?

Sie ruft nach mir und will, dass ich bei ihr sitzenbleibe.

Ich setze mich zu ihr, halte ihre Hand, streichle sie über den Kopf, atme mit ihr zusammen die Schmerzen weg. Sie beruhigt sich rasch, schließt die Augen, atmet wieder ruhig und scheint eingeschlafen zu sein.

Im gleichen Moment zieht mich eine unsichtbare Kraft wieder weg vom Bett. Ich habe Termine zu bestätigen oder abzusagen, Emails zu beantworten, die Küche zu putzen, und, und, und. Alles scheint mir wichtiger zu sein als bloß da zu sitzen, und nichts zu tun.

Viel lieber wäre mir gerade das Rotieren, Erledigen, Abhacken, Wegschaffen und die langen To-do-Liste abzuarbeiten. Einfach nur da zu sitzen schaffe ich nicht. Ich zähle im Kopf, was ich in dieser Zeit hätte alles erledigen können.

Ich schleiche mich leise aus dem Zimmer und prompt ruft sie wieder nach mir: wieder Schmerzen, wieder Weinen, alles von vorne.

Ich erinnere mich gut dran, als sie noch Baby war und am liebsten die ganze Zeit auf dem Arm verbringen wollte. Sie ließ sich einfach nicht ablegen, nicht im Schlaf, nicht nach dem Essen, nicht gut gelaunt oder sonst wie.

Wenn ich sie schlafend hingelegt habe, ging der Wettlauf um Minuten los: Schaffe ich es, einen Kaffee zu kochen oder auf Toilette zu gehen? Was ist mir gerade wichtiger? Vom Duschen oder in Ruhe zu frühstücken konnte ich nur träumen.

Nun erlebe ich Déjà-vu und gehe pflichtbewusst und doch widerwillig zurück zu ihrem Bett.

Wieder sitze ich da und halte ihre Hand. Sie ist wieder ruhig und ich will am liebsten wieder gehen.

Wenigstens mal das Handy in die Hand nehmen und ein wenig scrollen und lesen? Doch das wäre das Gleiche wie gehen, nur im Geiste.

Dann fällt mein Blick auf meine Hände. Sie scheinen mir heute so rau und überarbeitet, sie sehen aus wie gebrauchte Werkzeuge.

Sie erinnern mich an die Hände meiner Oma, ihre waren riesig groß, unförmig, drahtig, mit ausgeprägten Venen. Hände, die ein Leben lang angepackt und geschaufelt haben. Mit ihnen hat sie wahrscheinlich ihre Familie versorgt. Wie schwer diese Arbeit auch war, blieb sie für mich aber völlig unsichtbar. Was mir von der Oma präsent geblieben ist, ist ihr Lächeln und liebevolles Gesicht, in dem kein Platz war für Kritik oder Erwartungen. Ihr Gesichtsausdruck strahlte immer pure Freude meines Anblickes aus.

Mich trifft der Gedanke: In 20 Jahren wird meine Tochter nicht mehr wissen, was ich an diesem Tag heute alles erledigt habe, doch sie wird sich erinnern, ob ich an ihrem Bett sitzen geblieben bin.

Ich ringe mit mir: Ich kann ihr doch nicht helfen und ihre Schmerzen nicht wegnehmen. Sich muss da einfach nur durch. Und doch, – sagt die andere Stimme,- ich kann ihr helfen, indem ich einfach nur da bleibe. So verdammt einfach und schwer zugleich.

Denn die bloße Präsenz verlangt mir mehr Kraft ab, als alle physischen Aufgaben der Welt zusammen. Sie beansprucht nicht meine Muskeln, sondern schöpft aus meinen seelischen Reserven, die gerade leer sind. Wo finde ich bloß die Kraft?

Es erscheint wieder das strahlende Gesicht meiner Oma und schickt mir die Kraft, die ich gerade brauche. Ich sauge diese liebevolle Energie auf und tue das Schwierigste.

Und hier bin ich – am Bett sitzend, nicht von der Seite weichend, die Hand haltend, präsent, da.

(später aufgeschrieben)

„Sie bekommen Ihre Weihnachtsfreude, Fräulein Prysselius.“  Oder warum wir alle Prusseliese sind.

„Sie bekommen Ihre Weihnachtsfreude, Fräulein Prysselius.“ Oder warum wir alle Prusseliese sind.

Heute zum Geburtstag von Astrid Lindgren möchte ich nicht über Pippi oder Annika schreiben, sondern über Frau Prysselius, von Pippi liebevoll Prusseliese genannt – eine Figur, die wir in den Geschichten von Pippi Langstumpf belächeln und nicht wirklich ernst nehmen, dabei hält sie uns den Spiegel vor und wir belächeln unser eigenes Spiegelbild. Sie ist die Karikatur und Satire auf uns Erwachsene und jeder ist ein bisschen wie sie. Warum das so ist?

Frau Prysselius ist eine zwiespältige Gestalt: auf einer Seite tut sie ehrenvolle Tätigkeit – sie leitet ein Kinderheim und kümmert sich um die Waisenkinder – ein perfektes Aushängeschild. Auf der anderen Seite spüren wir etwas Falsches in ihr. Und ihr Satz: „Sie wissen doch, wie kinderlieb ich bin.“ bringt uns zum Schmunzeln. Sie will ja nur das Beste für Kinder. Stimmt es wirklich? Wer sagt das?

Hier ist eine Szene auf dem Weihnachtsmarkt. Sie jagt Pippi und holt sich Hilfe von den Polizisten mit den Worten:

– Ich möchte, dass sie wenigstens über die Feiertage im Kinderheim ist, sonst habe ich nämlich selbst keine richtige Weihnachtsfreude.

– Sie bekommen Ihre Weihnachtsfreude, Fräulein Prysselius, – antworten die Polizisten.

Pipi bringt Prusselieses Selbstbild als selbstlose Helferin der Kinder ins Schwanken. Man spürt, dass sie ihr Selbstbild um jeden Preis aufrechterhalten will, wie eine Maske, die in Pippis Anwesenheit durchsichtig wird. Die Waisenkinder sind für sie nur ein Instrument, mit dem sie ihr Selbstbild bewahrt. Pippi wehrt sich dagegen, Prusselieses Spielball zu sein und ihrer vorgetäuschten Gestalt Futter zu geben. Und das verärgert Prusseliese: Wie kann so jemand auf freiem Fuß leben? Er gehört doch eingesperrt. Wir alle bearbeiten mit unseren besten Bestrebungen eigentlich nur etwas in uns selbst, auch wenn wir es scheinbar für anderen tun. Wir merken es daran, dass unsere netten Gesten nur „gut gemeint“ bleiben, den anderen aber nicht berühren.

In Prusseliese spüren wir die unendliche Distanz, die Kluft, den Abgrund zwischen der Welt der Erwachsenen und dem Empfinden der Kinder. Als ich klein war, habe ich oft gespürt, dass Erwachsene längst vergessen haben, dass sie selbst einmal Kinder waren. Sie lebten auf einem anderen Planeten, waren mir fremd, hatten kein Einfühlungsvermögen, konnten sich nicht in mich hineinversetzen. Sie waren nur steife, gefühlslose Klötze mit rigiden Vorstellungen über gut oder schlecht. Wir wurden nur aufgefordert, ihren Erwartungen zu entsprechen. Ich habe mir damals fest vorgenommen, mein Empfinden als Kind bis ins Erwachsenenalter nicht zu vergessen, oder besser gesagt nicht zu verlieren.

Wir Erwachsenen wollen scheinbar das Kinderwohl. Doch unter dem Mantel der edlen Absichten verstecken wir etwas anderes – wir versuchen Löcher in unserer Seele zu flicken und tun es in Wirklichkeit für uns selbst, nicht für Kinder. Denn wir schauen nicht in die Kinderseelen hinein, sondern fordern von ihnen, dass diese sich anpassen. Ja, Kinder sind unreif. Ja, sie begeben sich oft unwissend in Schwierigkeiten oder Gefahren. Ja, wir müssen Verantwortung für sie bei manchen Entscheidungen übernehmen. Aber zu oft dient es nur der Rechtfertigung unserer geistigen Abwesenheit in ihrem Leben. Wir sehen Kinder nicht, spüren sie nicht, verstehen sie nicht und drücken ihnen nur unsere Ansichten vom Kinderwohl auf.

Befreien wir uns von den Konventionen und schauen in die realen Kinderseelen hinein. Das können wir allerdings nur, wenn wir uns als Kinder nicht vergessen haben und uns an das Empfinden unserer Kinderseele erinnern. Danke, liebe Astrid, dass du mich in den Momenten, wenn ich mich als Kind vergesse und in meiner erwachsenen Blindheit um mich wüte, wieder daran erinnerst und in die alten Zeiten zurückholst. Das erklärt es, warum mir beim Lesen deiner Bücher so manche Träne entwischt.

 

Kinderfilm für einen leichteren Umgang mit dem Tod.

Der Tag der Allerseelen, an dem in der katholischen Kirche an die Verstorbenen gedacht wird, schleicht eher unbemerkt an unserem Alltag vorbei. Wer denkt hier schon gerne an den Tod? Anders ist in Mexiko. Dort zelebrieren am 2. November die Menschen bunte Feierlichkeiten zum “el día de los muertos” (Tag der Toten), vom Trübsal und gedämpfter Stimmung ist dabei keine Spur. Es ist tatsächlich ein Feiertag: die Verstorbenen und ihr Leben werden mit Musik, Tanz und Essen gefeiert. Skelette sind allgegenwärtig, verziert mit Blumen und bunten Farben.

Der Tod ist ein schwieriges Thema für die meisten von uns. Wohl wissend, dass der Tod unmittelbar zum Leben dazugehört, blenden wir ihn im Alltag aus und leben so, als wären wir unsterblich. Auch mit Kindern können wir schwer über ihn reden. Irgendwann im Alter von ca. 3 Jahren begreifen Kindern instinktiv, dass das Leben nicht unendlich dauert: sie erleben Pflanzen, die verwelken, tot getrampelte Insekten auf de Straße oder Todesfälle in der Familie. Sie stellen uns Fragen, haben Angst, uns zu verlieren oder selber zu sterben. Doch der Abschied aus dem Leben hat auch gewisse Faszination. Ich kann mich noch erinnern, dass ich als Kind vom eigenen Tod genüßlich geträumt hatte und die Vorstellung genoß, wie alle mich vermissten und um mich weinten. Ja, der Tod macht das Leben nicht selbstverständlich und die Menschen, die sich seines Todes bewußt sind, genießen ihr Leben mehr, als wäre es der letzte Tag.

Genau der Tag der Toten steht als Sujet-Hintergrund des Kinderanimationsfilmes “Manolo und das Buch des Lebens”. Manolo ist ein junger Mann – ein Pazifist aus der Familie der Toreros, die seit Generationen im Stierkampf kämpfen. Manolo bricht mit der Tradition seiner Vorfahren, er verzichtet auf sinnloses Töten der Stiere und wird von seiner Familie dafür verachtet. Manolo stirbt und trifft in der Unterwelt auf all die Stiere, die seine Verwandten über Jahrzehnte getötet hatten. Eine blutige Abrechnung naht. Doch statt zu kämpfen entschuldigt sich Manolo für die Taten seiner Vorfahren, als ob es seine wären. Er singt ein Lied. Ganz nebenbei wird die versöhnende Kraft einer Entschuldigung demonstriert, die jeden Kampf überflüssig macht. Der Film ist darüberhinaus eine Liebesgeschichte, das Action kommt nicht zu kurz und der Tod in Gestalt von la muerta sieht zum verlieben schön aus – kein Grund zum Fürchten. Der Film ist gleich schön anzuschauen sowohl für die Kinder als auch für die Eltern, er bietet eine schöne Vorlage für das Unterhalten über das schwierige Thema. Denn, solange die Verstorbenen in unserer Erinnerung leben, sind sie nicht wirklich tot. Und ja, auch nach dem Tod werden wir mit den Früchten unseres Lebens auf der Erde konfrontiert.

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